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WEGSTRICKEN 

ВЯЗАНИЕ ДОРОГИ 

 

Die Performance fand von Mai bis August 2003 in den Zügen Remscheid - Solingen-Ohligs - Köln statt. Das war mein täglicher Weg von meinem Wohnsitz zur Universität und zurück. Das monotone Fahren ein und derselben Strecke erinnerte mich an das monotone Stricken der gleichen Maschenreihen. Auf diese Weise kam ich auf die Idee, die beiden Tätigkeiten miteinander zu verbinden mit der Hoffnung, dass diese Kombination eine Abwechslung in meinen Alltag bringt. 

 

Vorbereitung

Um Strickgarn zu beschaffen gab ich zwei Zeitungsanzeigen, und zwar im „Remscheider Stadtanzeiger“ und im „Kölner Wochenspiegel“ auf, in denen ich meinen Wunsch äußerte, alte Strickgarnreste geschenkt zu bekommen. Ich bekam viele Telefonanrufe und durfte viele Frauen besuchen, die ihre Wollreste los werden wollten. Nach vier Wochen stand mir eine große Menge von farbigen Wollresten zur Verfügung, mit Frauenwünschen versehen, dass ich etwas „Schönes“ daraus mache. 

 

System

Für das Stricken dachte ich ein System aus, das dem Fahren, Umsteigen und Weiterfahren entsprach:

-    Die Kilometerzahl, die ich mit dem Zug überwand, war für die Maschenzahl verbindlich. Dadurch bestimmte die Streckenlänge die Breite des Strickstücks. 

-    Jede kurze Strecke zwischen Umsteigen strickte ich mit einer Farbe. Auf diese Weise dokumentierte ich die Fahrzeit mit jedem Zug durch eine Farbe, und das Wechseln der Farbe bedeutete einen Zugwechsel. Die Farbwahl überließ ich dem Zufall. 

-    An jedem folgenden Tag begann ich am Stück in Gegenrichtung zu stricken ohne Rücksicht auf Reihenwechsel. Die Schlitze, die sich dadurch ergaben, waren das Zeichen für den Tagwechsel. 

 

Verlauf

Ich trug das Gestricktes jeden Tag bei mir und strickte so viel, wie mir zumute war. Ich legte Pausen ein, wenn ich von den anderen Reisenden angesprochen wurde oder wenn ich keine Motivation weiter zu stricken hatte. Dies kann man an der Breite der farbigen Streifen ablesen. So, durch Zufall und Motivationsschwankungen bestimmt, gestaltete sich das Strickstück. Während die Breite des Gestrickten immer gleich blieb, war diese Gleichmäßigkeit jedoch nach einigen Tagen nicht mehr zu erkennen. Durch Schlitzung wurde das Stück unförmig und in seiner chaotischen Beweglichkeit konnte man keine Spur des von mir ausgedachten Systems erkennen. Das spiegelte meine Gefühle wieder. Das monotone Stricken, wenn auch mit unterschiedlichen Farben, verlangte eine gewisse Konzentration und Anstrengung und steigerte das Gefühl der Langweile. Nach einigen Wochen wollte ich nicht mehr weiter Stricken. Dennoch trug ich das Stück weiter bei mir und kam spontan auf die Idee, das System zu verändern. Zur Abwechslung strickte ich beim Fahren nach Köln und auf dem Rückweg trennte ich das Stück auf und wickelte die Wolle wieder in Knäuel. Als das Strickstück aufgetrennt war, wollte ich spontan die Wollknäuel los werden. Diesen Wunsch äußerte ich in einer Zeitungsanzeige in der Zeitung“ Remscheider Stadtanzeiger“. Leider wollte keiner die Performance-Wolle haben. 

 

Dokumentation

Die Performance ist fotografisch in zwei Fotoreihen dokumentiert. Die erste Fotoreihe zeigt das Strickstück und seine Veränderung. Die zweite Fotoreihe dokumentiert meine Erlebnisse, die ich mit Hilfe von Handgestik ausdrücke. Für die Dokumentation trenne ich die Hände und das Strickstück voneinander, um die Prozesse zu verdeutlichen.

 

Postskriptum

Obwohl die Performance als eine empirische Auseinandersetzung mit eigenen Empfindungen geplant wurde, erregte sie die Aufmerksamkeit von vielen Reisenden. Ich musste viele Fragen beantworten, und zwar nicht aufgrund des Strickens selbst, sondern zur der merkwürdigen Form des Gestrickten und zum Sinn meiner Tätigkeit.

 

 

Fotodokumentation von P. Hartmann

www.petrahartmannphotography.com

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